Die Stimme ging auf einer Rasierklinge spazieren

György Kurtágs „Kafka-Fragmente“ in der Mannheimer Galerie „zeitraum_exit“ – Erstes Saisonkonzert der Gesellschaft für Neue Musik

Veranstaltung

Zeitung

Rhein-Neckar-Zeitung

Es kommt gerade Musikkritikern nicht eben leicht über die Lippen, zu prognostizieren, dieses oder jenes Werk der Neuen Musik würde bleiben, würde nicht im Strudel der Zeit versinken und noch viele Generationen von Musikern beschäftigen. Aber bei György Kurtágs "Kafka-Fragmenten" für Singstimme und Violine ist es angebracht, dies doch immerhin für möglich zu halten.

Die 1987 abgeschlossenen und uraufgeführten 40 Stücke - manche dauern nur wenige Sekunden, die längsten kaum mehr als fünf Minuten - wurden jetzt im ersten von Sidney Corbett verantworteten Saisonkonzert der Gesellschaft für Neue Musik Mannheim von der grandios expressiven Sopranistin Caroline Metzer und der nicht minder elektrisierend klangreichen Geigerin Nurit Stark in der Mannheimer Galerie "zeitraum_exit" aufgeführt - und der schmucklose Bau war ausverkauft. Die Schauspielerin Nadine Schwitter verband die vier Teile der Komposition mit Rezitationen aus Franz Kafkas Briefen an Milena, die die Zerrissenheit des Autors zwischen Liebe und Bürodienst, Annäherung und Distanz dokumentieren und in denen er schrieb, dass er letztlich "mit der Angst verheiratet" sei.

Was kann nun Musik solch zeitlosen Texten hinzufügen, ohne banal zu werden? Es ist die konzise Strenge der Komposition genauso wie die Einfachheit der Mittel, derer sich Kurtág bedient, die den Worten neue Sprengkraft geben, sie intensivieren, sie zum Strahlen bringen, bis sie wie ein Stern verglühen. Die Bruchstücke aus Kafkas Tagebüchern, Briefen und Nachlassfragmenten ergeben dabei keinen Erzählzusammenhang. Sie beleuchten Lebenssituationen in kurzen Sprachformeln und bestehen manchmal aus kaum mehr als einzelnen, wenigen Wörtern (etwa "ruhelos").

Kurtág verwandelt diese Satzfetzen in knappe Klangchiffren, die mit insistierenden Wiederholungen durchsetzt sind, aber jede musikalische Eloquenz, gar Rhetorik meiden. Es sind die Schatten hinter den Wörtern, die Kurtág in intensiv vibrierende Klänge umsetzt. Man muss sie schnell erfassen, denn oft bleibt nicht viel Zeit, zu realisieren, was da eigentlich geschieht. Nicht umsonst begann die Performance in "zeitraum_exit" aus einer sich nur langsam lösenden Dunkelheit heraus. Es brauchte ein gewisse Adaptionszeit, um die eigenen Sinne für diese Sekundenereignisse zu schärfen.

Wenn Wolfgang Rihm der musikalische Homer unserer Zeit ist, dann ist György Kurtág, der im nächsten Jahr seinen 90. Geburtstag feiert, der von Anton Webern geschulte Samuel Beckett unter den Komponisten der Gegenwart: Kein Ton ist bei ihm zu viel, keine Geste wird ausgewalzt, selbst dann nicht, wenn ein Stück wie die "Szene in der Elektrischen", die den dritten Teil der "Fragmente" beschließt, durchaus theatralische Züge annimmt mit dem in der Partitur vermerkten Wechsel der Geigerin von einer Bühnenseite zur anderen und der Verwendung unterschiedlich gestimmter Instrumente. Auch hier ist Reduktion auf das Nötigste und äußerste Konzentration charakteristisch.

Die beiden Interpretinnen zeigten in dem gut 75-minütigen Werk ihr ganzes künstlerisches Potenzial: Vom Lyrischen steigerten sie den Ausdruck innerhalb einzelner Bruchteile eines Taktes zum hysterischen Schrei. Die Stimme ging bisweilen auf einer Rasierklinge spazieren, und jeder Fehltritt verhieß Katastrophe. Nichts blieb musikalischer Small Talk oder erstarrte in virtuoser Attitüde. Man war Zeuge einer Performance, die trotz nebensächlicher Handicaps nie an Spannung verlor: Dankbar feierten die zahlreichen Besucher die Ausführenden mit mehr als nur herzlichem Beifall.

Matthias Roth