Odyssee im Welttraum
Menscheln im Hotel: Das Mannheimer Festival "Wunder der Prärie" erkundete urbane Sehnsuchtsorte
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Man schrieb Ende März, und die Luft war kühl. Also blieben die Zuschauer in den Pkws auf dem Parkplatz sitzen und lauschten den Anweisungen, die die britisch-deutschen Performer Gob Squad in ihrer Freirauminszenierung "Calling Laika" über Autoradio gaben. Das Ganze war raffiniert arrangiert. Die Zuschauer in den Fahrgastzellen fühlten sich so heimatlos wie das Hündchen mit dem Fledermausgesicht, dem 1957 als erstem Erdling ein Blick auf den blauen Planeten vergönnt war. Seither hält Laika die Phantasie der Menschen auf Trab und ruft das zwiespältige Gefühl hervor, schwerelos im Raum schweben zu wollen, gleichzeitig aber Angst vor der Unbegrenztheit des Alls zu haben.
Um dieses lustvolle Gefühl der Verlorenheit ging es Gob Sqaud schon damals Ende der neunziger Jahre und auch jetzt wieder bei "Room Service - Help me make it through the night". Als der Zimmerservice des Künstlerkollektivs nach mehreren Stationen nun in Mannheim Halt machte, hatte das einen besonderen Aspekt. Sean Patten, Berit Stumpf, Elyce Semenec und Bastian Trost bezogen vier Zimmer im örtlichen Holiday Inn und ließen sich mit einem Konferenzraum und den dort sitzenden Zuschauern vernetzen, um von 22 bis 3 Uhr nachts die Angstlust des Reisenden zu zelebrieren. Sie taten dies im Rahmen eines vom Mannheimer Büro für Kunst "zeitraum_ex!t" veranstalteten Festivals auf und konnten sich eigentlich ganz geborgen fühlen, waren sie doch Teil einer Vernetzung, in der urbane Sehnsuchts-, Flucht-, Angst- und Rückzugsräume erkundet wurden.
Am zweiten Tag des Festivals "Wunder der Prärie" etwa reisten nicht nur Gob Squad an. Mitveranstalter Wolfgang Sautermeister zeigte in einem Vortrag Sequenzen aus Stanley Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum" und machte deutlich, wie einsam sich der Mensch auf engstem Raum fühlen kann. Das war kurz nachdem Stefan Kaegi von "Rimini Protokoll" im bildgestützten Vortrag "Desplazados" von seiner Erfahrung der Unbehaustheit berichtet hatte. Kaegi lebt seit Jahren ausschließlich in Hotels und Gästehäusern. Jetzt hat er mit dem Koffer unterm Arm und der Digitalkamera in der Hand die Standards von Hotelzimmern dokumentiert: Das Begrüßungsbild im TV, die Hinweise zum Nachtleben der Stadt unter dem Motto "Gute Laune zum Sondertarif", die endgefaltete Klorolle und die Fluchtpläne mit parzellierten Zimmeranordnungen, bei deren Anblick der Gast sich wie ein Häftling vorkommen müsste.
Kaegi zählt zu den Theatermachern, die in Stadträume vordringen, um dort Lebenswelten und soziale Verwerfungen zu erkunden. Seine Dokumentation korrespondiert mit Gob Squads Nachtperformance und endet mit Bildern aus Bogota. Auch dort sind Hotelzimmer wie in jeder europäischen Metropole standardisiert, während draußen "Desplazados" hausen, die in Folge der Anti-Drogen-Politik der USA millionenfach vom Land in die Stadt abwandern und in den Wagen übernachten, mit denen sie tagsüber Müll sammeln. Auch die Behausung der "Vertriebenen" ist standardisiert und hinterlässt wohl das seltsame Gefühl, gleichzeitig geborgen, ausgesetzt und gefangen zu sein. Dass sich da eine Parallele zur Erfahrung mitteleuropäischer Hotelreisender ergibt, könnte man für kokett halten, wäre Kaegi nicht ein derart ernsthafter Rechercheur sozialer Mechanismen, die die Mensch- und Tierwelt im Innersten zusammenhalten.
Vor zwei Jahren hatte "zeitraum_ex!t" ihn zum ersten Mal zum Mannheimer Festival geladen, und er revanchierte sich mit der Inszenierung eines Ameisenstaates unter Einbeziehung von vier Populationen aus dem Mannheimer Stadtwald. Damals hatte sich Kaegie noch nicht so weit oben in den Theatercharts platziert. Inzwischen gehören er, "Rimini Protokoll" und das Wandern im Grenzbereich von Sozialplastik und Stadtraumrecherche, Bühnenbild und urbaner Installation fast schon zum Repertoire städtischer Bühnen, während das Mannheimer "zeitraum_ex!t"-Büro vom letzten "Theater der Welt" gelernt hat und mit "Fünf Wohnungen" fortführt, was vor zwei Jahren in Duisburg mit "X Wohnungen" begann.
Jetzt in Mannheim steuerte der Bühnenbildner Gerhard Benz die interessanteste Inszenierung im Flur einer Wohnung des Szeneviertels Neckarstadt-Ost bei. Die Wohnung wird gerade bezogen, und man hätte Zeuge der Einrichtung einer neuen Wohlfühlhöhle sein können, wären die Türen zu den Zimmern nicht mit Sandsäcken verbarrikadiert worden. Vom Flurbunker aus konnte man lediglich durch schmale Schlitze in die Zimmer und Phantasieräume sehen, die so arrangiert waren, als sollten die frisch renovierten Räume vor der Zurichtung durch Bezug geschützt werden. Der Besucher träumte auf dem Flur, musste ansonsten aber draußen bleiben.
Auch da ging es wie bei allen Wundern der urbanen Prärie um Unschärfen der Trennlinie von Wirklichkeit und Fiktion - ein Gefühl, dass die Mannheimer Veranstalter immer dann heimsuchen dürfte, wenn sie einen Blick in die Kasse werfen. Die Künstler Gabriele Oßwald und Wolfgang Sautermeister, die Regisseurin Elke Schmidt und der Bühnenbildner Tilo Schwarz haben einen Jahresetat von 120 000 Euro. Den Löwenanteil von 80 000 steuert ein Sponsor bei, der nicht genannt sein will. Das ist geradezu vorbildlich, weil diese Großzügigkeit das jährliche Festival ermöglicht und damit auch das Gastspiele jener Performer, die vor Jahren in Frankfurt dem ersten Hund im All nachtrauerten.
Laikas Einsamkeit dürfte weiland auch Stanley Kubrick inspiriert haben, der in seiner "Odyssee" einen gewissen Dr. Floyd vom Mond per Teletelefon mit dem Töchterchen kommunizieren lässt. Er könne morgen leider nicht daheim sein, sagt Floyd: "Du weißt doch, Papi ist auf Reisen". In diesem Moment hat sich der Passagier in der intergalaktischen Kommunikationszelle wohl genauso einsam gefühlt wie Berit Stumpf von Gob Squad, die im Mannheimer Hotelzimmer mit der Nase entlang von Bettdecken, Zimmerwänden und Kloschüsseln Spuren sicherte.
Stumpf vertrieb mit Gerüchen von Vorbewohnern des Hotelzimmers die Einsamkeit, während Elice Semenec eine selbstvergessene Hoteltänzerin war und Sean Patton eine Ich-AG des Kunsthandels gründen wollte, obwohl keiner der Zuschauer im Konferenzraum ihm am Telefon ein Startdarlehen zusagte. In diesen Sequenzen waren Gob Squad einmal mehr Meister inszenierter Zufälle der dritten Art.
JÜRGEN BERGER