So dicht, so nah, so psycho

Das Theaterstück "Dingos" von Paul Brodowsky als Koproduktion mit dem TiG7 im Mannheimer Künstlerhaus zeitraumexit

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Die Rheinpfalz

Vor Tausenden Jahren war ein Dingo ein ganz normaler Haushund. Seit er verwildert ist, kann jedes Kuscheln mit ihm gefährlich werden. Und so ungefähr gestaltet sich auch die Beziehung zwischen Carla und Georg, die Paul Brodowsky in seinem Eifersuchtsdrama „Dingos“ zum Eskalieren bringt. Inka Neubert, die künstlerische Leiterin des TiG7 in Mannheim, hat es jetzt am Künstlerhaus zeitraumexit sehr minimalistisch inszeniert.
Virtuell ist die ganze Zeit über noch eine dritte Person anwesend, der mysteriöse Adrian. Er hat Carla E-Mails geschrieben, sehr intime, und geschlafen hat sie mit ihm auch, ihn aber schon seit zwei Monaten nicht mehr gesehen und auch den Mail-Kontakt abgebrochen. Zumindest behauptet sie das. Die gespeicherte Post allerdings, die hat Georg heimlich gelesen und korrekt als etwas interpretiert, das seiner Frau sehr viel bedeutet. Ob er, moralisch betrachtet, ihren Account knacken durfte und wie nun allesweitergehen soll – es ist ein Konflikt, der sich langsam auftut und der dann immer schneller immer heftiger wird. Dabei fängt alles so harmlos an. Carla (Fiona Metscher) und Georg (Jo Schmitt) sind auf einer lange ersehnten Urlaubsreise durchs australische Outback. Den leeren Raum, in dem sie agieren, muss man sich als ziemlich trostlose Einöde vorstellen, in der weit und breit kein anderer Mensch zu sehen ist und das Wasser sehr schnell sehr knapp werden kann. Zuerst aber ist alles noch ganz fröhlich, von irgendwoher wird sogar noch gut gekühltes Schokoladeneis gezaubert. Aber dann kommen die ersten Anzeichen der Eifersucht, Sand gerät ins Getriebe des Wüstenfahrzeugs, und man spürt schon: All das wird sich noch zu einem ganz gewaltigen Drama mit ungewissem Ausgang steigern.
Das Publikum wird an diesem Abend alles andere als geschont. Ständig richtet einer der beiden Schauspieler eine Videokamera auf einen Zuschauer oder eine Zuschauerin – das einzige Requisit neben einem Projektor, der die belustigte bis Unbehaglichkeit ausstrahlende Reaktionfür alle sichtbar  an die Wand wirft. „Hast du schon mal betrogen?“, schleudert Metscher als Carla dem Gast entgegen. „In Gedanken? Ist das dann auch schon Betrug?“ Das ständige Filmen in dem hell ausgeleuchteten Saal – es erzeugt einen Eindruck von Echtzeit (Video: Norbert Kaiser). Und die Gefahr, dass die Kamera ständig herunterfallen oder einer der Schauspieler über das Kabel stürzen könnte: Die verstärkt noch die Anspannung aller Anwesender. So dicht, so nah und irgendwann so psycho ist die Situation, dass man der Regisseurin Inka Neubert für die Erholungspausen danken muss, die sie Schauspielern und Publikum zwischendurch immer wieder gönnt. Dann werden aus den Figuren nüchterne Beobachter des Dramas, die mit Klassischen theatralen Mitteln grundsätzliche Fragen in den Raumwerfen, deren Antwort sowieso kein Mensch kennt: Gibt es die eine große Liebe? Will man immer alles wissen? Ist Rache süß oder Blutwurst oder beides? Und wie kriegt eigentlich Tilda Swinton das mit der Liebe zu dritt so gut hin? Falls überhaupt stimmt, was man darüber lesen kann. Und während man über diese Fragen und womöglich auch einige andere Dinge noch nachdenkt, ist aus dem harmlosen Roadtrip plötzlich ein Himmelfahrtskommando geworden und aus den beiden Normalos in naturfarbenen praktischen Klamotten die Mitwirkenden eines Kampfs auf Leben und Tod. Im Getriebe ist gar nichts anderes mehr als Sand, der Diesel-Vorrat erschöpft, das Wasser schon längst leer. Und dass Georg, dessen Grundaggressivität schon die ganze Zeit über zu spüren gewesen war, mit einem Messer herumspielt, hat etwas sehr Beunruhigendes. Das Gefühl wird man auch nach dem verdienten starken Schlussapplaus noch längere Zeit nichtwieder los. Nicole Hess